Seit dem Euroschock wird in der Wirtschaft über Sparmassnahmen diskutiert. Sind Unternehmen mit einer guten Unternehmenskultur bei der Krisenbewältigung im Vorteil?
Josef Maushart: Unternehmen mit einer guten Unternehmenskultur sind grundsätzlich im Vorteil, weil eine gut funktionierende Kultur ganz einfach Kreativität freisetzt. Dass das in der Krise ein besonderer Vorteil ist, bezweifle ich. Denn in der Krise zählt vor allem vollständige Transparenz.
Christine Novakovic: Das sehe ich ein bisschen anders. Ich bin zwar Ihrer Meinung, dass Transparenz ganz wichtig ist. Zugleich kann es aber für einen Unternehmer oder Manager in einer Krise sehr hilfreich sein, auf die Loyalität der Mitarbeitenden zählen zu können, die man sich in guten Zeiten erworben hat.
Antoinette Weibel: Vertrauen und auch Gemeinschaftsgefühl sind ganz elementare Faktoren in schwierigen Phasen. Denn sie führen dazu, dass Mitarbeitende neue Lösungswege finden. Wir untersuchen am Institut derzeit die Widerstandsfähigkeit von Organisationen gegenüber Krisen und deren Umgang mit Unsicherheit und stellen fest, dass der Grad der Robustheit durchaus mit einer gewissen Ausprägung von Unternehmenskultur zusammenhängt.
Doch was bedeutet eigentlich Unternehmenskultur? Und wie entsteht sie?
Maushart: Entscheidend ist eine faire Chancenverteilung zwischen den Beschäftigten auf sämtlichen Hierarchiestufen. Jeder Mitarbeitende muss sich nach seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten entwickeln können – so, wie der Unternehmer die Chance hat, die Firma voranzubringen. Im Idealfall geht die Entwicklung des Einzelnen mit der Entwicklung des Unternehmens einher. Eine Führungskraft muss den Mitarbeitenden eine Perspektive aufzeigen und sie einen Sinn in ihrem Tun erkennen lassen. Wenn wir das erreichen, dann haben wir starke und zufriedene Belegschaften.
Novakovic: Neutral betrachtet, bezeichnet Unternehmenskultur die Art, wie wir miteinander umgehen, ob dies nun festgeschrieben ist oder nicht. So, wie Sie es beschreiben, Herr Maushart, ist es das Schönste, was man sich unter Unternehmenskultur vorstellen kann.
Weibel: Dem stimme ich zu – das ist positives Personalmanagement. Nach meiner Erfahrung handhaben das nur ganz wenige wie Sie, Herr Maushart. Deswegen freue ich mich so darüber. Denn es gehört ja zu den wichtigen Formen der Unternehmenskultur, die Mitarbeitenden als mündige Bürger zu sehen und ihnen Gelegenheit zu geben, mitzudenken und kreativ zu sein. Dazu zählt ebenso, sie wertzuschätzen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass man sich um sie kümmert. Das schafft Vertrauen. Letztlich müssen die Werte immer gelebt werden.
Frau Weibel, Sie sprechen von positivem Personalmanagement. Welche Rolle spielt es für die Kultur?
Weibel: Das Personalmanagement prägt die Kultur vor allem durch Personalauswahl und Anreizsysteme. Wer Chefin oder Chef wird, ist entscheidend für die gelebten Werte. Anreizsysteme bestimmen, welches Verhalten wir schätzen. Wird beispielsweise mitten in einer Krise ein Forced Ranking eingeführt, das alle Vorgesetzten zwingt, ihr Team in Leistungskategorien einzuteilen, dann wirkt sich dies extrem auf den Umgang miteinander aus.
Novakovic: Ich finde es gar nicht so schlecht, mithilfe einer strukturierten Leistungsbeurteilung einmal im Jahr zu eruieren, wo die Belegschaft steht. Die Frage lautet vielmehr, wie wir diejenigen Mitarbeitenden behandeln, welche in die tieferen Kategorien eingeteilt wurden. Ihnen muss ich aufzeigen, wie sie sich in den nächsten sechs Monaten verbessern können. Denn unsere Aufgabe ist es, den Durchschnitt jedes Jahr anzuheben und so die gesamte Organisation kontinuierlich zu verbessern.
Welche Mittel stehen Ihnen zur Verfügung, Herr Maushart, um Ihre Firma zu optimieren?
Maushart: Für mich ist die Verteilung der Weiterbildungsmassnahmen über die Hierarchiestufen ein wesentlicher Punkt. Normalerweise werden diese Aktivitäten häufiger, je höher man in der Hierarchie aufsteigt. Doch in unserer KMU-Industriewelt haben wir sehr viele ungelernte Personen oder Wiedereinsteiger, die bei einem Strukturwandel als Erste den Job verlieren könnten. Bilden wir diese aber weiter, dann profitieren davon sowohl die Unternehmen als auch die Volkswirtschaft, und es werden zudem noch Widerstände gegen Rationalisierungen abgebaut. Obendrein wirkt es dem Fachkräftemangel entgegen. Im Kanton Solothurn haben wir ein Pilotprojekt lanciert, bei dem ungelernte Mitarbeitende in einem Betrieb den Lehrabschluss nachholen können. Das Programm ist ein Erfolg und ist zum Vorbild für andere Kantone geworden.
Wir reden von einer Unternehmenskultur. Doch gibt es nicht gerade in internationalen Grossunternehmen mehrere Kulturen?
Novakovic: Bei UBS ist es so, dass wir je nach Unternehmensbereich diverse Geschäftsmodelle haben. Das allein schafft schon verschiedene Kulturen. Als Manager zwingt es einen, mit Unterschieden umzugehen. Diese Unterschiede sind übrigens eine wertvolle Ressource, besonders für ein internationales Unternehmen. Denn sie schaffen Räume, ermöglichen Vielfalt und ziehen vielerlei Talente an. Trotzdem ist es natürlich wichtig, dass es Grundzüge einer übergreifenden Unternehmenskultur gibt.
Maushart: Der zentrale Unterschied zwischen einem KMU und einem Grosskonzern besteht darin, dass ein KMU nur ein Geschäftsmodell betreibt. Insofern gibt es wohl 100 FRAISAs in einer UBS. Doch auch wir müssen verlässliche Grundprinzipien haben, die überall gelten. Wie viel ich zentral regle und wo ich lokalen oder nationalen Gestaltungsspielraum lasse, ist eine Gratwanderung. Mein Rezept lautet: «So viel regionale Freiheit wie möglich», denn dies fördert Kreativität. Wie sonst sollte Vertrauensbildung über Authentizität funktionieren, wenn die lokale Leitung überhaupt keine Entscheidungskompetenz hat?
Vertrauen bildet sich also über eine authentische Führung. Doch inwieweit kann man Führung überhaupt lernen?
Weibel: Ob und wie man Führung lernen kann, wird heftig diskutiert. Viele Charaktereigenschaften kann man sich nicht aneignen, sie werden in den ersten 25 Jahren des Lebens geprägt. Doch jeder Mensch hat Stärken, und diese gilt es zu fördern. Dazu gehören wichtige Führungsmerkmale wie Empathie, Begeisterung und Neugier. Hier zeigt sich bei den Firmen allerdings noch Nachholbedarf.
Maushart: Wenn es einem inneren Anreiz entspricht, kann ich mir Führungskompetenzen auch erarbeiten. Doch ist es nicht in mir drin, dann lerne ich es auch nicht.
Wann haben Sie das erste Mal gespürt, dass Sie das Talent zum Chefsein haben?
Maushart: Das erste Anzeichen – das mich überraschte – erlebte ich mit 14 Jahren. Damals forderte mich der Fussballtrainer auf, die obligate Ansprache beim Fussballturnier zu übernehmen. Das käme stärker rüber, meinte er. Das hat den Ausschlag gegeben …
Novakovic: Ich habe schon mit zehn oder zwölf Jahren in der Schule oder unter Freunden immer gern Verantwortung übernommen und entschieden. Wenn in der Schule der Lehrer ausgefallen war, durfte ich manchmal an seiner Stelle die Klasse unterrichten.
Zurück zur Unternehmenskultur: Die Führung prägt die Kultur – doch wie merkt die Führung, welche Stimmung im Unternehmen wirklich herrscht?
Novakovic: Indem ich die Distanz zwischen mir und meinem Team so stark wie möglich abbaue, denn Distanz schafft Angst. Die wichtigste Aufgabe eines Führungsteams besteht darin, unter den Mitarbeitenden ein angenehmes Arbeitsklima sicherzustellen. Das bedeutet beispielsweise Chancengleichheit, Zusammenhalt und auch mal fünf gerade sein lassen. So betrachtet, ist ein Chef eigentlich der Chief Entertainment Officer (lacht).
Maushart: Mir geben unsere hierarchieübergreifenden Meetings Aufschluss über die Stimmung im Unternehmen. Meine Aufgabe hier – ich musste schmunzeln, als Sie vom Chief Entertainment Officer sprachen – ist die Diskussionsleitung. Ich höre zu, sorge für eine faire Diskussion und für Sanktionsfreiheit.
Novakovic: Aber Sie halten dann am Schluss doch den Kopf hin für die Entscheidung.
Maushart: Selbstverständlich. Dafür verdiene ich auch ein bisschen mehr als die anderen.
«Es kann in einer Krise sehr hilfreich sein, auf die Loyalität der Mitarbeitenden zählen zu können, die man sich in guten Zeiten erworben hat.»
«Letztlich müssen Werte immer gelebt werden.»
«Eine Führungskraft muss den Mitarbeitenden eine Perspektive aufzeigen und sie einen Sinn in ihrem Tun erkennen lassen.»
Christine Novakovic leitet nach einer internationalen Bankkarriere bei UBS seit 2011 den Bereich Firmen- und institutionelle Kunden. Seit 2014 steht sie auch an der Spitze der Investment Bank Schweiz.
Josef Maushart ist seit 1995 Geschäftsleiter, seit 2005 Mehrheitseigentümer des Solothurner Industriebetriebs FRAISA SA. Seit 2011 amtet er als Präsident des Industrieverbands Solothurn und Umgebung.
Antoinette Weibel ist Co-Direktorin des Instituts für Führung und Personalmanagement an der Universität St. Gallen. Vertrauensbildung und Unternehmenskultur zählen zu ihren Forschungsschwerpunkten.