Robert E. Lucas
Nobelpreis 1995 | Rationale Erwartungen: Wirkt sich das, was wir morgen erwarten, auf die Wirtschaft von heute aus?
Wenn man sich entscheidet, ein Haus oder ein Auto zu kaufen oder die Kinder zum Studium zu schicken, dann denkt man im Voraus. Man fragt sich, ob der Preis für das Haus oder das Auto steigen oder fallen wird und ob das Kind nach der Uni einen guten Job ergattern wird. Diese Überlegungen beeinflussen die Entscheidungen, die wir letztendlich treffen. Diese Erkenntnis ist nicht neu oder überraschend, und dennoch war diese scheinbar banale Weisheit bis zur Arbeit von Robert «Bob» Lucas nicht Teil der ökonomischen Modellierung.
Robert E. Lucas
Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften (anteilig), 1995
Robert Lucas – Vorher und Nachher
Robert Lucas – Vorher und Nachher
Die Tatsache, dass das Nobelkomitee die Arbeit von Lucas als klaren Wendepunkt in der Durchführung makroökonomischer Analysen honoriert hat, überrascht kaum. Viele Beiträge in der Ökonomie, angefangen von der Politikanalyse über den Finanzbereich bis hin zum Wirtschaftswachstum, gehen auf Lucas zurück. Einer davon sticht jedoch besonders hervor: Und zwar sein 1972 erschienener Aufsatz «Expectations and the Neutrality of Money», der eine ganze Reihe weiterer Beiträge inspirierte und die Wirtschaftswissenschaften prägte wie kein anderer. Mittlerweile berücksichtigen die makroökonomischen Modelle den Effekt zukünftiger Einnahmen und Ausgaben auf aktuelle Entscheidungen.
Der Versuch, die Gedanken der Menschen zu verstehen
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Lucas griff die Idee rationaler Erwartungen auf und modellierte sie mithilfe mathematischer Formeln. Die Mathematik bildet für ihn den Mittelpunkt seiner Vorstellung von der Welt und anderen Dingen, die ihm wichtig sind. Sein Vorgehen sieht in etwa wie folgt aus: Zunächst ersinnt er ähnlich wie ein Schriftsteller eine fiktive Welt und arbeitet mathematisch heraus, wie diese Welt unter bestimmten Bedingungen funktionieren würde. Als nächstes sucht er nach Analogien zwischen der realen Welt und dieser mathematisch modellierten, fiktiven Welt. «Wenn wir das menschliche Verhalten beschreiben sollen, dann wollen wir unsere Modelle mit unseren Handlungen in Einklang bringen», sagt er. «Rationale Erwartungen sind eine Möglichkeit.»
Für Lucas geht es in den Wirtschaftswissenschaften um Menschen und darum, wie sie Entscheidungen treffen. «Alles in der Ökonomie passiert, weil Menschen dieses oder jenes oder etwas anderes tun», fährt er fort. «Wenn wir das verstehen wollen, müssen wir uns in die Menschen hineinversetzen und uns fragen, was sie denken. Die Antwort der rationalen Erwartungen lautet: Sie denken, was sie denken sollten. Wenn sie eine Prognose abgeben, machen sie das höchstwahrscheinlich gut. Menschen kennen ihr eigenes Geschäft besser als Aussenstehende, wie z. B. Ökonomen, und wir wollen versuchen, dahinterzukommen.»
Hineinzoomen in das Leben der Menschen und das Gesehene auf Modelle übertragen
Hineinzoomen in das Leben der Menschen und das Gesehene auf Modelle übertragen
Wie kommt es, dass der Mensch und seine Entscheidungen nach wie vor Schwerpunkt der doch eher abstrakten makroökonomischen Analyse in der Arbeit von Lucas bleiben? Unser Gespräch in seinem Appartement in der 6th Avenue mit Blick auf New York City gibt Aufschluss. Wie zur visuellen Unterstützung unserer Konversation erscheinen die Autos und Fussgänger kleiner und weniger relevant als sie im grösseren Kontext der Stadt tatsächlich sind.
Als ehemaliger Geschichtsstudent, der vom 1848 erschienenen Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels inspiriert war, interessiert sich Lucas stark für das Leben und die Arbeit ganz normaler Menschen und für das, was sie tun.
«Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind und nicht, wie man sie gerne hätte», sagt er. «Es soll realistisch sein. Wir versuchen, die gesamte Wirtschaft mit 300 Millionen Menschen in sechs oder acht Gleichungen zu beschreiben; das ist Abstraktion. Ganz klar.»
Warum sind wir keine Marxisten mehr?
Wie kann man eine Volkswirtschaft modellieren und dabei nicht zu komplex werden?
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Durch die Vereinfachung mathematischer Modelle lassen sich auch in den Wirtschaftswissenschaften annähernd Laborbedingungen schaffen. In Modellen kann man mit politischen Massnahmen wie Steuererhöhungen oder der Einführung von Subventionen für bestimmte Wirtschaftszweige herumspielen und bringt dabei keine Menschenleben in Gefahr. Sind diese Spielereien erfolgreich, können die aus den Modellen gewonnenen Erkenntnisse laut Lucas in der realen Welt umgesetzt werden. Diese Verknüpfungen mithilfe der Mathematik sind nicht von selbst entstanden, sie wurden sorgfältig von Wirtschaftswissenschaftlern konstruiert.
Vereinfachen wie einst Sir Isaac Newton
Sich auf etwas Einfaches und Praktisches zu beschränken, ist laut Lucas leichter gesagt als getan. «In der Makroökonomie geht es hauptsächlich darum, ein paar Dinge zu vereinfachen und sich nicht in Details zu verlieren», sagt er. «Daher sprechen wir oft in einer Art und Weise über Menschen, als ob alle immer aus exakt denselben Gründen auf genau die gleiche Art und Weise handeln würde. Dem ist natürlich nicht so. Aber es macht keinen Sinn, komplizierte Theorien aufzustellen, wenn man ihre Folgen nicht abschätzen kann. Kompliziertheit ist also der Feind.»
«Mir ist bewusst, dass ich Newton nicht das Wasser reichen kann», sagt der Ökonom. «Aber als Newton analysierte, wie die Erde um die Sonne kreist, ignorierte er die anderen Planeten, denn er hätte nicht mit allen zehn Planeten gleichzeitig umgehen können. Er dachte sich, dass er ziemlich nah herankommen würde, was er ja bekanntermassen tat. So macht man das. Man fängt mit etwas Einfachem an und baut es dann aus, so weit es eben geht.»
«An Bobs Modellen zeigt sich seine äusserst ungewöhnliche Begabung, eine Geschichte so einfach wie möglich zu erzählen und dabei den Kern einer Situation zu beschreiben», sagt Andrew Caplin, ein Kollege von Lucas an der New York University (NYU). «Er macht die einfachste Sache der Welt, ohne sich dabei lächerlich zu machen.»
Neue Ideen diskutieren und dadurch die Welt verstehen
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Lucas, für den Chicago definitiv sein «einziges Zuhause» ist, empfindet die Arbeit an der NYU als intellektuelle Bereicherung. «Die Arbeit hier ist anregend», verrät der Ökonom. «Nach einer gewissen Zeit an einem Arbeitsplatz führt man in der Regel immer wieder dieselben Gespräche. Selbst wenn die Menschen um einen herum intelligent sind und man sie interessant findet. Ein Ort wie die NYU bringt einfach neue Denkanstösse – die Gespräche mit klugen Leuten, die ausgezeichnete Arbeit leisten, die ich so zuvor noch nie gesehen habe. Das ist wirklich neu und innovativ. Die Erkenntnisse sind sehr nützlich; es ist wichtig, rauszugehen und die Welt zu entdecken. Die NYU ist dafür ein grossartiger Ort.»
Warum Bildung so wichtig ist
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Als wir ihn am Bahnsteig der Grand Central Station verabschieden, damit er seinen Zug zu einer Konferenz in Philadelphia nicht verpasst, erzählt uns Lucas noch mehr darüber, was für ihn neben den Wirtschaftswissenschaften ausserdem wichtig ist im Leben. Auf sozialer Ebene legt er grossen Wert auf den regelmässigen Austausch neuer Ideen mit Menschen, die ähnlich motiviert sind.
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