Schwachstellen der Demokratie: Sollte jeder das Wahlrecht haben?
Ist die Demokratie das ultimative Modell, das uns in die Zukunft führt? Wenn ja, warum scheinen sich junge Menschen nicht mehr so dafür zu interessieren? Gespräche mit Nobelpreisträgern.
Als Grossbritannien im Juni 2016 für den Austritt aus der Europäischen Union votierte, sprachen sich 70 Prozent der Wähler unter 24 Jahren für den Verbleib in der EU aus, verglichen mit 40 Prozent der Wähler über 65 Jahren. Drei Jahre später ist diese Diskrepanz einer Umfrage der BBC zufolge immer noch vorhanden. Wenn morgen ein weiteres Referendum stattfinden würde, was allerdings sehr unwahrscheinlich ist, würden laut Datenlage wohl mehr junge als alte Menschen für den Verbleib Grossbritanniens in der EU stimmen.
Ist es gerecht, Wahlberechtigte aller Altersgruppen über eine Frage abstimmen zu lassen, die für die nächsten Jahrzehnte entscheidend ist? Oder handelt es sich hier um eine Schwachstelle der Demokratie? Das fragte sich der eine oder andere jedenfalls nach dem Referendum im Jahr 2016, schliesslich würde der Brexit die britische Wirtschaft nicht nur kurz-, sondern auch langfristig beeinträchtigen. Bei den bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament wird die Frage, ob es fair ist, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleiche Stimme haben, erneut auf den Tisch kommen.
«Ich sehe keine Möglichkeit, alten Menschen den Einfluss zu nehmen, den sie bisher haben», sagt Nobelpreisträger Robert Solow. «Wenn sie klug sind und selbst Kinder haben, lernen sie vielleicht, die Bedürfnisse anderer Menschen in ihre Überlegungen mit einzubeziehen, aber das ist in einer demokratischen Gesellschaft nicht leicht vorzuschreiben.»
«In einer Demokratie gilt das Prinzip, dass jeder bzw. jede eine Stimme hat, so ist das nun mal. Wenn das ein Nachteil ist, dann ist das eine Schwachstelle der Demokratie,» fährt Solow fort. Sein Nobelkollege Oliver Hart ist sich da nicht so sicher. «Die Zukunft gehört den jungen Menschen», sagt Hart. «Es gilt zwar die Regel, dass jeder eine Stimme hat, aber das muss nicht so sein. Die jungen Leute müssen viel länger damit leben. Vielleicht sollten sie mehr als eine Stimme haben.»
Er gibt jedoch zu, dass es sich bei dieser Überlegung nur um ein Gedankenspiel handelt. Daran, wie die bestehenden Wahlsysteme funktionieren, wird sich wohl nichts ändern. Trotzdem sieht er im Brexit ein gutes Beispiel für die Schwachstellen im System. «Es gab Hinweise darauf, dass die Menschen gar nicht wirklich wussten, worüber sie da abstimmen», erklärt er. Daten aus der Suchmaschine Google zeigten, dass die Anzahl der Suchanfragen zum Thema «Was ist die EU» und «Was ist der Brexit» im Vereinigten Königreich nach Schliessung der Wahllokale in die Höhe stiegen.
Kann eine Regierung eine Entscheidung der Öffentlichkeit überlassen, wenn die Menschen die Komplexität ihrer Entscheidung nicht überblicken können und, was noch schlimmer ist, wenn sie sich an gefälschten Informationen, sogenannten Fake News, orientieren? Viele Zeitungen, etwa die Tageszeitung The Guardian, wiesen wieder und wieder auf EU-feindliche Falschmeldungen hin, die vor und nach dem Referendum zum Thema Brexit zirkulierten.
Daniel McFadden hat sich ausgiebig mit Entscheidungsmodellen beschäftigt und erklärt, dass Fehlentscheidungen häufig deshalb entstehen, weil die Menschen auf keine guten Informationen zurückgreifen. «Sie verarbeiten die Informationen nicht sehr gut und denken nicht genug darüber nach.»
«Wenn die Menschen sich zu sehr darauf konzentrieren, was unmittelbar bevorsteht, ohne einen Blick in die Zukunft zu werfen, um zu sehen, welche Auswirkungen die Entscheidung langfristig haben wird, oder wenn man zu sehr auf die Dinge achtet, die unmittelbar sichtbar sind, etwa die glänzenden Teile des Autos, ohne das zu betrachten, was unter der Motorhaube steckt, so wird die Art, wie Menschen Entscheidungen treffen, systematisch in eine bestimmte Richtung gelenkt», erklärt McFadden.
Es gibt Wirtschaftswissenschaftler, die ein noch düstereres Bild malen, da die Mehrheit der jungen Menschen anscheinend gar nicht mehr findet, dass die Demokratie von grundlegender Bedeutung für ihr Leben ist. Eine Studie, die im Jahr 2016 im Journal of Democracy veröffentlicht wurde, stellt fest, dass die ab 1980 geborene Generation, die sogenannten Millennials, dem politischen System, in dem sie leben, viel gleichgültiger gegenüberstehen als die Älteren. In den USA gaben beispielsweise nur 30 Prozent an, dass sie die Demokratie für absolut unverzichtbar halten, verglichen mit mehr als 70 Prozent derjenigen, die in den 1930er Jahren geboren sind. «Das macht mir grosse Sorgen,» sagt Bengt Holmström. «Vielleicht haben sie etwas Genialeres im Sinn als die Demokratie, oder sie sind einfach so daran gewöhnt, dass sie das System als selbstverständlich ansehen.»
Aber was würde geschehen, wenn die jungen Leute sich gänzlich vom demokratischen System entfremdet fühlen? In diesem Fall wäre es unwahrscheinlich, dass sie die Entscheidungsmacht, die sie als Bürger haben, über ihre Stimmabgabe bei Wahlen ausüben. Die Verfasser der Studie stellten fest, dass die Wahlbeteiligung unter jungen Menschen und gleichzeitig ihr Vertrauen in politische Institutionen in vielen Demokratien Nordamerikas und Europas zurückgegangen ist.
Nach Angaben des Pew Research Center gaben 69 Prozent der sogenannten Babyboomer an, bei den Präsidentschaftswahlen 2016 in den USA gewählt zu haben, aber nur 49 Prozent der Millennials. Angesichts der Tatsache, dass sich 55 Prozent der Millennials als Anhänger der Demokratischen Partei bezeichnen, verglichen mit 46 Prozent der Babyboomer, ist klar, dass sich das Ergebnis der Wahlen ändern könnte, wenn mehr von ihnen ihre Stimme abgeben würden. Bei der Abstimmung über den Brexit war das Gefälle noch grösser, berichtet die britische Tageszeitung The Guardian.
Während 90 Prozent der über 65-Jährigen ihre Stimme abgaben, betrug die Wahlbeteiligung bei den unter 24-Jährigen nur 64 Prozent.
Auch bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2014 war die Wahlbeteiligung unter den ältesten Wählern am höchsten: 51 Prozent der über 55-Jährigen gaben ihre Stimme ab, aber nur 28 Prozent der unter 24-Jährigen. Nach Angaben der EU-Abteilung, die für das Monitoring der öffentlichen Meinung zuständig ist (Public Opinion Monitoring Unit) blieben diese prozentualen Anteile seit den Wahlen 2009 mehr oder weniger gleich. Es gibt also wenig Grund zur Annahme, dass sich ab 2019 etwas Wesentliches an den Verhältnissen ändern wird.
McFadden bleibt optimistisch. «Die jungen Leute können die Kontrolle übernehmen, wenn es ihnen bewusst wird, wie ihre Interessen aussehen, und wenn sie sich zu Wort melden und beteiligen.
Es bleibt zu hoffen, dass sich die jungen Menschen in Zukunft nicht mit der Zuschauerrolle auf der Reservebank begnügen, sondern ernsthaft darüber nachdenken, welche Zukunft sie für sich wollen und sich dafür einsetzen.»
Gerade angesichts der Überalterung der Gesellschaft in den 28 europäischen Mitgliedsstaaten brauchen wir die jungen Leute an den Wahlurnen, damit ihre Stimme auch wirklich gehört wird. «Eine Sache, die diese Generation eint, ist die Frage, was mit unserem Planeten passiert», sagt Holmström. «Hierbei handelt es sich um eine existentielle Frage, die dem Leben viel Sinn gibt, weil man etwas hat, gegen das man kämpfen kann. Das stimmt mich optimistisch.»
Es ist ganz klar, dass in einer demokratischen Gesellschaft jeder Bürger verantwortlich ist für die politischen Massnahmen der Regierung, und je informierter jeder Einzelne von uns ist, desto besser. Vielleicht sollten wir uns alle einmal Gedanken darüber machen, wie wir zu besseren Bürgern werden, und die Beteiligung an Wahlen als unsere Pflicht sehen.
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