Alvin E. Roth
Nobelpreis 2012 | Marktdesign für den Nierentausch: Können die Wirtschaftswissenschaften Leben retten?
Ein Ökonom, ein auf Nierentransplantationen spezialisierter Chirurg und ein Schulleiter betreten gemeinsam einen Raum. Nein, das ist kein Witz. Das ist ein Momentaufnahme von der Nobelpreisverleihung in Stockholm im Jahr 2012. Und dies sind einige der Gäste von Alvin Roth, dem Begründer des Marktdesigns. Ein ungewöhnlicher Mix? Vielleicht. Aber Roth ist der Ökonom, der Ideen entwickelt hat, um Nachwuchsärzte und Krankenhäuser, Kinder und Schulbezirke sowie Nierenspender und Patienten zusammenzuführen. Und die Liste der Anwendungsgebiete des Marktdesigns wächst kontinuierlich.
«Marktdesign», erklärt Roth, «ist ein nach außen gerichteter Teil der Wirtschaftswissenschaften.» Ein Marktdesigner arbeitet an der Lösung von Problemen, mit denen Menschen im Alltag konfrontiert sind. Charismatisch und energiegeladen agiert Roth wie ein Arzt, der einen Patienten untersucht, Medikamente verschreibt und Empfehlungen weiterverfolgt.
Alvin Roth
Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, 2012
Wie die Gestaltung eines Marktes unser Verhalten verändert
Charakterisieren Nierenspenden und die Schulwahl überhaupt einen Markt? Roths Definition von Märkten ist recht weit gefasst. Für ihn ist ein Markt eine Art Austausch und Interaktion, bei der Preise häufig keine Rolle spielen. «Wenn ein Forscher vom Mars mit einem Stipendium der marsianischen Wissenschaftsstiftung zum Studium der Menschen auf der Erde bei uns landen würde, so würde er berichten, dass wir, wenn wir nicht allein sind, die ganze Zeit reden, kommunizieren und Geschäfte tätigen, dass wir uns abstimmen und miteinander konkurrieren.», scherzt er.
Die goldene Regel von Matching-Märkten
Die goldene Regel von Matching-Märkten
Den Nobelpreisträger trieb es zu den Wirtschaftswissenschaften aus dem Verlangen , die für ihn interessanten Fragen zu beantworten. Sein Interesse für die Spieltheorie wurde im Graduiertenkolleg an der Stanford University geweckt, wo er unter der Leitung von Bob Wilson Operations Research studierte. Inspiriert von den Publikationen von David Gale und Lloyd Shapley, Roths Mitpreisträger, studierte er verschiedene Matching-Märkte. In solchen Märkten wählen sich die Teilnehmer unabhängig voneinander aus, damit ein Austausch stattfinden kann. «Man muss nicht nur auswählen, man wird auch selbst ausgewählt» – das ist die goldene Regel der Matching-Märkte. So sucht sich beispielsweise eine Hochschule aus einem Pool die Bewerber aus, die sie zulässt. Genauso wählen aber auch die Bewerber die Hochschule aus. Ein Krankenhaus bietet einem Arzt aus einer Liste von Bewerbern, die ihrerseits angegebenen haben, für dieses Krankenhaus arbeiten zu wollen, eine freie Stelle an.
Wie funktioniert das Matching?
Wie funktioniert das Matching?
Eine der Problemstellungen, mit denen sich Roth fortan beschäftigte, stand in Zusammenhang mit dem National Resident Matching Program («The Match»), einer speziell für die Zusammenführung von jungen Ärzten und Krankenhäusern eingerichteten Clearingstelle. Er verfasste einen theoretische Aufsatz, in der er unterstellte, dass Medizinstudenten, die in einer Paarbeziehung leben, ein Problem für «The Match» darstellten. «Es sollte ausreichen, dieses knifflige Problem in dem theoretischen Aufsatz anzusprechen», sagt er. «Als ‹The Match› in den 1990ern allerdings in eine Krise geriet, erhielt ich einen Anruf und wurde gebeten, die Neustrukturierung zu leiten. Das war der Moment, in dem ich realisierte, dass ich dieses knifflige Problem zu meinem eigenen Problem machen würde.»
Beweisen von Theoremen, um Studenten zu Jobs zu verhelfen
Über «The Match» priorisierten Medizinstudenten die von ihnen bevorzugten Programme für die Facharztausbildung im Krankenhaus. «Die entsprechenden Kliniken erstellten für ihre Facharztprogramme ebenfalls eine Rangliste für Studenten. Die Clearingstelle führt dann die jeweiligen Präferenzen zusammen. Ein Match wird vorgeschlagen, dessen Eigenschaften so gut sind, dass alle das Angebot annehmen.»
Wie konnte es aber sein, dass miteinander verheiratete Medizinstudenten diesen Arbeitsmarkt zusammenbrechen ließen? Kurz gesagt, sie akzeptierten die vorgeschlagenen Matches nicht mehr.
Roth wurde beauftragt, die Regeln dieses dysfunktionalen Marktes neu zu gestalten. Dabei blieb er dem von Gale und Shapley beschriebenen Konzept der Stabilität von Matches treu, erweiterte das System jedoch um die Präferenzen von Paaren. Er ermöglichte es Paaren, ihre Wünsche gemeinsam anzugeben und stellte sicher, dass sie nicht besser dastehen würden, wenn sie versuchten, das System zu täuschen, indem sie sich getrennt bewerben.
Leben retten mit Hilfe der Wirtschaftswissenschaften
Gestaltung eines Marktes für den Nierentausch
Gestaltung eines Marktes für den Nierentausch
Es ist beeindruckend, Roth dabei zuzusehen, wie er auf seinem Computer tippt und gleichzeitig auf dem Laufband unter seinem Schreibtisch trainiert. Die Erkenntnis, dass das Ergebnis vom emsigen Tippen des hochkonzentrierten Ökonomen möglicherweise Leben retten kann, verändert die Wahrnehmung seines Berufs. Wie kam er dazu, einen Markt für den Tausch von Nieren zu schaffen?
In seinem sonnendurchfluteten Büro auf dem Campus der Stanford University erklärt Roth, dass das reiner Zufall war. Damals stand Pittsburgh an der Spitze von Organtransplantationen in den USA, insbesondere für Lebern und Nieren. Für seine Studenten brauchte er ein gutes Beispiel für ein Modell, in dem unteilbare Güter ohne Geld ausgetauscht werden.
«Ich erzählte ihnen von der Möglichkeit, Nieren so auszutauschen, wie man es in Pittsburgh mit Transplantaten machte», erinnert sich Roth. «Jeder Mensch besitzt zwei Nieren. Und wenn Sie gesund genug sind, können Sie auch mit nur einer Niere zurechtkommen und somit das Leben eines geliebten Menschen retten, indem Sie ihm eine Niere spenden. Da Nieren jedoch zusammenpassen müssen, ist das nicht immer möglich. Ich könnte mich in der gleichen Situation wie Sie befinden. Möglicherweise könnten Sie aber der mir nahestehenden Person eine Niere spenden und ich dem Ihnen nahestehenden Menschen. Damit würden wir zwei Leben retten.»
Kurz nach dem ersten Nierentausch verfasste Roth mit seinen Kollegen einen Vorschlag für die Schaffung eines Markts für den Austausch von Nieren. Seither ist ihre Methode zum Standardverfahren für Transplantationen in den USA geworden.
Machen Regeln die Märkte freier?
«Wenn man sich ein Rad vorstellt, das sich frei dreht, denkt man doch nicht an ein Rad, das isoliert in einem Vakuum steht, sondern an ein Rad mit einer Achse und gut geölten Lagern. Damit Märkte ebenso frei funktionieren, brauchen sie Regeln.» So legen beispielsweise die Öffnungszeiten der New York Stock Exchange die Regeln für diesen Markt fest. Die Händler wissen ganz genau, wann die Börse öffnet und sie mit ihren täglichen Routineabläufen beginnen müssen. In diesem Sinne liegen die Regeln des Marktes in seinem Aufbau.
Kaffee, Gespräche und sonstige Rituale
Auf einem Markt basieren die Regeln genau wie im richtigen Leben auf Ritualen. Diese ungeschriebenen Gesetze bringen die Menschen zusammen, um sich auszutauschen und zu kommunizieren. Dadurch geben sie uns ein Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Für Roth hat ein Ritual den Rang einer Regel. Jeden Morgen trinkt er zu Hause gemeinsam mit seiner Frau Emily seinen ersten Kaffee. «Kaffee ist eine Metapher für gemeinsame Gespräche», sagt der Preisträger und nippt an seiner Tasse.
Immer dienstags zur Mittagszeit trifft sich Roth mit seinen Kollegen und Studenten auf einen Kaffee. Dann spazieren sie zu einer der Rasenflächen und nehmen einen Picknicktisch in Beschlag. Die Gruppe diskutiert die aktuellen Forschungsergebnisse, ihre Fortschritte, die aufgetretenen Probleme und die anstehenden Aufgaben. Dieses wöchentliche Kaffeeritual schafft eine vertrauensvolle, familiäre Atmosphäre ohne Konkurrenzdenken. So wie es die von einem Marktdesigner definierten Regeln den Marktteilnehmern auf sichere Weise ermöglichen, ihre Präferenzen offenzulegen, dienen auch die von Roth ins Leben gerufenen Kaffeerunden als eine Plattform zum Austausch und als ein Marktplatz für Ideen, wo die Studenten ihre Gedanken offen äußern können.
Ein gutes Match finden – eine lebenslange Herausforderung
Ein gutes Match finden – eine lebenslange Herausforderung
Kurz nachdem sich das Marktdesign als eigenständiges Fachgebiet innerhalb der Wirtschaftswissenschaften etablierte hatte, unterrichtete Roth zusammen mit seinem Kollegen und Freund Paul Milgrom einen Kurs in Harvard. Die beiden Professoren haben sehr unterschiedliche Lehrstile. «Al ist äußerst artikuliert, ein hervorragender Dozent», sagt Milgrom mit einem Lächeln. «Er hält die Dinge wirklich einfach. Er hat meine Art und Weise zu lehren verändert.»
Kleine Modelle finden sich in der realen Welt
Ein passendes Match zu finden, kann eine lebenslange Herausforderung sein. Roth fand einen Weg, um instabile Matching-Märkte zu stabilisieren und unser Verständnis dessen, was Märkte wirklich sind, zu erweitern. Bei seinen Studenten nutzt er den gleichen Ansatz, indem er sie auffordert, sich für etwas zu entscheiden, dass sie gern tun. «Ich sage ihnen, dass ein Großteil ihrer Verantwortung darin liegt, etwas zu finden, woran sie wirklich gern arbeiten. Damit sie etwas tun können, was für sie erstrebenswert ist, wobei sie auch die tägliche Arbeit lieben», sagt er.
Roth lächelt, als er über die Zukunft des von ihm geschaffenen Fachgebiets nachdenkt.